„Willkommen, Fremdling, lieber Gast, du Bild des verborgenen Gottes, tritt ein und verweile. Gott beschenkt mich in dir, weiht mir zum Tempel das Haus.“
Anonymus

Betrachtungen über die Gastfreundschaft
Heute gilt die Gastfreundschaft als freundliche Gesinnung, die einem Besucher von seinem Gastfreund bei seiner Beherbergung, Bewirtung und Unterhaltung entgegengebracht wird. Das Grundprinzip der Gastfreundschaft seit alters her ist wohl das der Gegenseitigkeit: Man erhofft sich selbst unter ähnlichen Bedingungen eine gastfreundliche Aufnahme.
Und auch, wenn dieses Grundprinzip außer Frage steht, tun sich manche Menschen sehr schwer damit, diese Verpflichtung zu erfüllen. Die uns bekannte Kritik an der Gastfreundschaft stammt beispielsweise von Dionysos Chrysostomos, wonach die Gastfreundschaft – zumindest bei den Wohlhabenden – als schöner Schein entlarvt wird: In Wirklichkeit gehe es bei der Gastfreundschaft darum, eigene Leistungen mit hohem Zins zurückzubekommen. Chrysostomos belegt seine These mit Beispielen aus der Praxis und aus der Literatur seit Homer.
Auch das Gegenteil kann der Fall sein. Wenn der Gast um vieles wohlhabender ist als der Gastgeber, so „erzwingt“ er sich auf subtile Weise mitunter eine zuvorkommende Behandlung, ohne dass dies ausgesprochen oder offen signalisiert werden muss. Die „Freundlichkeit“ des Gastgebers ist dann in Wirklichkeit nichts anderes als eine verborgene Furcht vor der Macht seines Gegenübers.
Aber überwiegen denn nicht die Vorteile einer, aus dem Herzen kommenden, selbstverständlichen Gastfreundschaft? Schauen wir zurück in die Menschheitsgeschichte.

Gastfreundschaft in der Ethik und den Religionen
Gastfreundschaft wurzelt in der Religion und zeigt sich in sämtlichen Kulturen als religiös fundierte Praxis. Bereits polytheistische Religionen wahren sie als eine der wichtigsten religiösen Pflichten. Bestimmte Kulturen achten die Gastfreundschaft als hohes Gut, so dass Verletzungen des Gastrechtes und der Pflichten dem Gast gegenüber mit dem Verlust der Ehre einhergehen. Dem Gastgeber obliegt es, den Gast aufzunehmen, ihn mit dem Nötigsten zu versorgen, aber ihn auch im Notfall mit vollem Einsatz zu verteidigen bzw. zu rächen, falls er während seines Gastaufenthaltes Opfer eines Angriffs wird. Oft ist die Dauer eines solchen Aufenthalts genau festgeschrieben. Bei nomadischen Völkern in Vorderasien betrug sie drei Tage und vier Stunden; der Gast gehörte während dieser Zeit praktisch zum Stamm.
Die Aborigines zelebrieren das Tanderrum als rituelle Aufnahme von Besuchern.
Gastfreundschaft gilt im Katholizismus als eines der Sieben Werke der Barmherzigkeit. In der Orthodoxen Kirche entwickelte sich die Philoxenia zu einem eigenständigen liturgischen und künstlerischen Schwerpunkt. Ebenso ist Gastfreundschaft dem Judentum (Hachnasat orchim) und dem Islam heilig. Eine religiöse Fundierung der Gastfreundschaft konnte in Gesellschaften ohne starke Institutionen und Infrastruktur das Überleben von Reisenden sichern und war damit wichtige Grundlage für jeden Handel und Austausch.

Gastfreundschaft zur neutestamentlichen Zeit
Die Mahlzeiten in einem ärmeren Haushalt waren eher spärlich und wurden hauptsächlich durch das gemeinsame Abendessen, einen Gemüseeintopf mit einem Stück Brot, bestimmt. Hierbei diente das Brot als Löffel, um die Nahrung aus dem gemeinschaftlichen Topf herauszufischen. Waren Gäste anwesend, wurde dem Essen Fleisch hinzugefügt. Außerdem aß man auf dem Boden.
In reicheren Häusern war das Essen häufiger mit Fleisch und allgemein etwas aufwändiger. Hier saß man auch nicht auf dem Boden, sondern lag auf Ottomanen oder Ähnlichem um einen quadratischen Tisch. Dem Gast gebührte hier der Ehrenplatz und er bekam beste und erlesene Speisen vorgesetzt. Auch hatte jeder sein eigenes Geschirr. Kam ein Gast, wurde er zuerst von einem Bediensteten empfangen, dann kam der Herr des Hauses, begrüßte ihn, indem er ihm die Hand küsste. Danach veranlasste er, dass dem Gast die Füße gewaschen und das Haupt gesalbt wurde. Bei manchen Familien gab es auch ein Gästezimmer.

Gastfreundschaft als „Geistesgabe“
Die christliche Religion kennt nur eine „Frucht des Geistes“ (Galater 5,22.23), die Liebe, die sich in achtfacher Weise auswirkt. Sie wird in 1. Korinther 13 in ähnlicher Weise beschrieben. Gemeint ist hier die Fähigkeit, Dinge zu tun, die man ohne Jesus Christus nicht tun könnte. Des Weiteren gibt es noch andere Begabungen und Gaben, die von Gott jedem einzelnen Gläubigen geschenkt werden. Außer Gastfreundschaft zählen beispielsweise noch Ermutigung, Glaube, Apostolat, Helfen, Gebet, Leitung oder Barmherzigkeit dazu. Die Frucht des Geistes ist Liebe: Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Keuschheit. Teile dieser Frucht befähigen Gläubige dazu, Gastfreundschaft auszuüben, so zum Beispiel Freundlichkeit und Güte.
Gastfreundschaft ist eine von Gott gegebene Gabe, die befähigt, andere Menschen zu umsorgen und ihnen Freundlichkeit entgegenzubringen. Christen mit dieser Begabung haben ein „offenes“ Haus, in dem sich Freunde wie Fremde spontan wohl und willkommen fühlen. Auch außerhalb ihres Heims schaffen sie eine ungezwungene Atmosphäre und verströmen Wärme. Durch ihre Art helfen sie Menschen, sich auch in ungewohnter Umgebung und Situationen schneller einzugewöhnen.

Die Gastfreundschaft –
die Tugend, die Gott bei sich aufnimmt
Der russische Dichter Leo Tolstoi (1828-1910) erzählt vom Schuster Martin. Dieser träumte eines Tages, dass ihn Gott besuchen komme. Sofort steht er auf und putzt das ganze Haus, um seinen hohen Gast entsprechend empfangen und bewirten zu können. Ganz aufgeregt schaut er durch sein kleines Fenster auf die Straße, um Gott ja nicht zu übersehen. Da sieht er einen Mann, dessen Schuhe kaputt sind. Er lädt ihn zu sich ein und repariert seine Schuhe. Gleich darauf sieht er eine Mutter mit ihrem Kind, die frierend über die Straße gehen. Er bittet sie, sich bei ihm aufzuwärmen und eine Suppe zu essen. Schließlich sieht er einen Jungen, der aus Hunger einen Apfel stiehlt. Er bezahlt den Apfel aus seiner eigenen Tasche. Als es Abend wird, macht sich in Schuster Martin Enttäuschung breit, weil der Herr nicht gekommen ist. Da hörte er eine Stimme: „Schuster Martin, ich war doch heute schon ein paar Mal bei dir zu Gast und ich hatte mich stets sehr wohl gefühlt.“

Wir nehmen Christus auf
Diese Erzählung zeigt den Grund, warum im Christentum Gastfreundschaft eine Tugend ist: in jedem Gast nehmen wir Christus auf, der gesagt hat: „Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen … Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,35.40). Wir können daraus ersehen, dass sich die Tugend der Gastfreundschaft nicht darin erschöpft, gastfreundlich zu Freunden, Bekannten und Verwandten zu sein, diese Tugend schließt gerade die Fremden und Bedürftigen mit ein. Dadurch vor allem wird sie zu einem Werk der Barmherzigkeit und Nächstenliebe. In seinem Wort über die rechten Gäste (Lk 14,12-14) sagt Jesus: „Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, so lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein; … Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie können es dir nicht vergelten; es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten.“

Ein hohes Gut
Die Gastfreundschaft ist jener freundliche Umgang, den ein Besucher durch Beherbergung, Bewirtung und Unterhaltung empfängt. In vielen Kulturen und Religionen ist oder war sie ein so hohes Gut, dass die Verletzung des Gastrechtes sogar mit strengsten Strafen belegt wurde oder wird. Der Gastgeber ist oft nicht nur verpflichtet, den Gast aufzunehmen und mit dem Nötigsten zu versorgen, sondern ihn im Notfall sogar vor Feinden zu verteidigen und gar zu rächen.
Neben dem Christentum ist die Gastfreundschaft auch im Judentum und im Islam etwas Heiliges. Dahinter steckt nicht nur der Glaube, dass in jedem Gast Gott selbst anwesend ist – ein Gedanke, der sich übrigens auch in Homers „Odyssee“ (8. Jh. v. Chr) finden lässt. Es geht um die ganz praktische Alltagserfahrung der Welt der Nomaden in der Wüste. Dort gehörte Gastfreundschaft zum Gebot des Überlebens. Für das Volk Gottes kommt hinzu, dass das Gebot der Gastfreundschaft besonders gegenüber Fremden zu wahren ist, weil sie selbst „Fremde in Ägypten“ waren. In Lev 19,34 lesen wir als Gebot: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“
Bis heute ist es im Judentum Brauch, dass bei jüdischen Festen immer ein Gedeck mehr auf den Tisch gestellt wird … denn es könnte ja sein, dass ein unerwarteter Gast kommt, der sich als der erwartete Messias erweist.


Biblische Gastfreundschaft
In der Bibel gilt die Verweigerung oder Verletzung der Gastfreundschaft als Schande (Gen 19,5-7; Ri 19,22f). Als beispielhafte Gastgeber gelten Abraham und seine Frau Sarah (Gen 18,1-8). Mitten am Tag kommen drei fremde Männer zu ihnen nach Mamre. Ohne sie zu kennen und ohne zu wissen, was sie wollen, lädt Abraham sie ein. Sie können sich die Füße waschen, erhalten etwas zu essen und zu trinken. Abraham lässt sogar ein „zartes, prächtiges Kälbchen“ schlachten und zubereiten. Dann erst erfährt Abraham den Grund, der diese drei Männer zu ihm führte: seine Frau Sarah werde schwanger werden und ihm seinen Sohn Isaak gebären. An dieser Erzählung erkennen wir, was aus biblischer Sicht zur Gastfreundschaft gehört: die Aufnahme des Fremden, das Waschen der Füße, die Bewirtung, Schutz und Begleitung beim Abschied.
Jesus preist die Tugend der Gastfreundschaft im Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“, der einen Fremden von der Straße aufliest und für ihn sorgt (Lk 10,25-27), und im Gleichnis vom bittenden Freund, der um Mitternacht plötzlich Besuch erhält und nichts zu essen anbieten kann (Lk 11,5-8). Der Apostel Paulus schreibt in Röm 41,13: „Gewährt jederzeit Gastfreundschaft.“ Und in Hebr 13,2 heißt es: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“

Besonders empfehlenswert
Die Kunst der Gastfreundschaft besteht darin, sich bewusst zu machen, dass ich Gott in jedem Menschen begegne. Zur besonderen Tugend wird sie, wenn sie nicht nur bei Bekannten und Freunden, sondern bei Fremden angewandt wird. Für den heiligen Franz von Sales (1567-1622) zählt die Gastfreundschaft zu den besonders empfehlenswerten kleinen Tugenden, weil sie oft und leicht geübt werden kann. „Nichts ist der göttlichen Majestät wohlgefälliger als die … kleinsten Tugenden, wie etwa die Gastfreundschaft,“ schreibt er in einem Brief. Sie „machen uns vollkommener als die größten Tugenden“ (DASal 6,383).
Auch für Franz von Sales beginnt die eigentliche Tugend der Gastfreundschaft im Verhalten gegenüber Fremden. Dabei gibt es eine Steigerung, wie er in seinem Buch „Abhandlung über die Gottesliebe“ schreibt: „Die Gastfreundschaft üben ist, wenn sie nicht dringendste Not erfordert, ein Rat. Fremde aufnehmen ist die erste Stufe davon. Aber auf die Straße gehen, um sie einzuladen, wie es Abraham getan hat (Gen 18,2), ist schon eine höhere Stufe. Und eine noch höhere ist es, wenn man in gefahrvollen Gegenden seinen Wohnsitz aufschlägt, um die Wanderer aus Gefahren zu retten, ihnen zu helfen und ihnen zu dienen“ (DASal 4,100f).
In der Ordensgemeinschaft der Schwestern der Heimsuchung Mariens, die er 1610 zusammen mit der Heiligen Johanna Franziska von Chantal (1572-1641) gründete, ist die Gastfreundschaft eine eigene Aufgabe. Besonders Frauen, Witwen und Verheiratete, sollen die Möglichkeit haben, eine Zeitlang in den Klöstern zu leben, wenn sie „ein neues Leben in Christus beginnen wollen.“ Franz von Sales nimmt also das vorweg, was man heute modern als „Kloster auf Zeit“ oder „Urlaub im Kloster“ formuliert. Für Franz von Sales ist dies ein Gebot der Gastfreundschaft, denn – so schreibt er in einem Brief – „man kann nicht hinreichend schildern, wie reiche Früchte diese geistliche Gastfreundschaft von einigen Tagen bringt“ (DASal 8,234).

Die Gastfreundschaft der Tempelritter
Die Templer, die man während der Verhöre nach dem 13. Oktober 1307 über die caritative Tätigkeit des Ordens befragte, bestanden alle darauf, dass sie im Gegensatz zu den Hospitalitern nicht zu Gastfreundschaft und Krankenpflege verpflichtet waren. Denn «der eine gründete auf der Gastfreundschaft, der andere auf dem Kriegsdienst», wie Jacques de Molay in seiner Denkschrift über die beabsichtigte Vereinigung beider Orden schrieb. Trotzdem übten die Templer Gastfreundschaft und nahmen Pilger und andere Durchreisende in ihren Häusern auf.
Und so verwundert es nicht, dass die templerische Gastfreundschaft stets gewährt wurde, auch ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Schon immer wurden auch auf den Tischen der Ordenshäuser vom Tempel für eine Person zusätzlich eingedeckt.
Wir finden viele Hinweise auf diese besondere Form der Gastfreundschaft, die sich gerade bei den Tempelrittern zu einer „Goldenen Tugend“ entwickelte. Als konkretes Beispiel dafür dient uns die Gründungsgeschichte der Komturei von Neuve-Court (Belgien) die bereits 1183 dokumentiert wurde. Vorausgegangen war eine Schenkung durch Gottfried III., aus Dankbarkeit für die Gastfreundschaft der Templer in Benevento auf seiner Pilgerreise nach Jerusalem. Die Gastfreundschaft der Templer gilt seither als legendär.
Non Nobis ☩ Domine ☩ Non Nobis ☩ Sed Nomini Tuo Da Gloriam.

„Kommt, kommt herein! Ich bitte euch, kommt auch ein anderes Mal. Wer ihr auch seid: Gläubige oder Ungläubige, Häretiker oder Götzenanbeter. Diese Tür ist offen für jedermann.“
Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (1207 – 1273)